INTERVIEW  Helmut Chairman Palla

Dr. Paul Methall Lehrbeauftragter am Council for Strategic Art & Design in New York und Korrespondent mehrerer Kunst- und Designzeitschriften, führte dieses Gespräch, eigentlich ein emailbasierter Frage und Antwortschriftverkehr, mit Helmut Palla anläßlich (während und nach) seiner Ausstellung „You Take A Seat, I Take A Picture“ im Oktober und November 2010.
P.M.: Herr Palla, sie bespielen da souverän eine wunderbare 800qm große Ausstellungshalle. Wo haben sie sich die letzten 25 Jahre versteckt?
H.P.: (lacht) In einem Hinterhof. Und wir (H.P. und seine Lebensgefährtin die Modedesignerin Dorothee Redelsteiner, Anm. der Redaktion) hatten einen Traum und einen Deal. Wir haben uns ein kleines Reich und ein Minimodeimperium geschaffen (die von Dorothee unter dem Label „Taki-To Wien“ entworfene Kindermode galt immerhin in mehr als 25 Ländern als das non plus ultra), das war der Traum und wir sind aus diesem Arbeits- und Terminwahnsinn wieder ausgestiegen, das war der Deal. War ich früher President, Presseattachee, Privatsekretär und Freizeitschrauber, bin ich jetzt ganz Chairman und kann endlich meinen Traum ausleben. Jetzt darf und kann ich nicht nur am Sonntag nachmittag spielen. Und die Ausstellungshalle im Semperdepot ist eine herrliche Spielwiese für meine Sessel und ihre „Besitzer“.
P.M.: Was fasziniert sie so an Sesseln?
H.P.: Sessel sind für mich die persönlichsten, menschlichsten und menschenähnlichsten Möbel. Sie kommen dem Menschen am nächsten und zwar sowohl buchstäblich, als auch von der Form her. Ich sehe sie quasi als ergänzenden Körperteil, als Körpererweiterung, als Stütze/Gerüst/Skelett des wachen Geistes. Wie ein Schatten begleiten sie uns unser ganzes Leben. Tagein, tagaus bewegen wir uns mehr oder weniger bewusst von einem Sessel, von einem Sitzplatz zum nächsten. War der Urmensch ein Wanderer, so ist der Kulturmensch ein Sitzer. Kein anderes Möbel ist ähnlich variantenreich, kein anderes auch nur annähernd in dieser Menge vorhanden. Ein unerschöpfliches Thema wie der Mensch selbst und fast genauso alt.
Außerdem baue ich ja nicht nur Sessel und Stühle, sondern durchaus das ganze Programm: Tische, Lampen, Regale, etc. und auch Objekte ohne funktionelle Verwendung.
P.M.: Ja aber die bestehen dann erst wiederum oft aus Sessel(teile)n. Ich sehe da schon eine vor allem in den letzten Jahren fast obsessive Konzentration auf das Thema Sitzen. H.P.: Nun der Stuhl ist ein Archetyp unseres(meines) Lebens und Denkens. Er behält sein Stuhlsein noch lange, auch wenn man z.B. nicht mehr darauf sitzen kann. Weltweit und ab dem Kleinkindalter bekannt und verständlich, wie eine Art Universalsprache. Es sind keine großen Erklärungen oder intellektuellen Theorien notwendig. Schrankenlos, ob Alt oder Jung, Schwarz oder Weiß, Philosoph oder Hausmeister, ich erreiche sie alle gleichermaßen. Sie begreifen alle (auf ihre Art und nach ihren Möglichkeiten), alle haben ihren Spaß, ihre Verwunderung, ihre Irritation. Fast ein bisschen wie Musik: nonverbal, intuitiv, sehr demokratisch.
P.M.: Sie bezeichnen sich als Chairman. Wie ist das zu verstehen?
H.P.: Als das was es ist, buchstäblich und wortwörtlich, ein Spiel mit Worten, Begriffen und Dingen. Der Chairman ist ein Chairman, ist der Chairman könnte man sagen. Es ist nämlich (sic) auch der Titel eines Objektes bzw. einer ganzen Gruppe von Objekten. Und dieser
“Orignal“Chairman (aus dem Jahre 1993) markiert einen wichtigen Wendepunkt in meiner Arbeit, weg vom rein formalen Ansatz des Fundstücks, hin zum mehr inhaltlichen und theoretischen Konzepts des Sitzens an sich.
P.M.: Aber sie verwenden ja nach wie vor Fundstücke, die dann be- oder verarbeitet werden.
H.P.: Das schon. Nur bei meinen früheren Arbeiten war das Fundstück der Auslöser, der alles bestimmte, von dem alles ausging. Dieses wurde dann verändert, zerteilt, umfunktioniert, mit anderen kombiniert oder ergänzt. Nun ist es primär die Idee und zu dieser Idee suche ich dann die passenden Teile/bzw. Sessel. Das Verfahren ist dann letztendlich irgendwie ähnlich, die Herangehensweise aber eine komplett andere. Aus Zerteilung wurde Chairteilung.
P.M.: Warum überhaupt Fundstücke? Es gibt ja, soweit ich weiß, nicht ein einziges Objekt von ihnen, das am Reißbrett oder am Zeichentisch entstanden ist, sondern immer bereits fertig Vorhandenes, das dann in irgendeiner Art und Weise verändert wird.
H.P.: Als Autodidakt, ohne Know-how, ohne Werkstatt- und Werkzeugerfahrung stand das Fundstück ganz am Anfang. Es war etwas, das schon da war, mit einer Form und einer Funktion, mit Ge- und Verbrauchsspuren, mit Geschichte und Patina, fertig und unfertig zum umfertigen. Und es war ein schneller Weg was zu erreichen.
Dazu kam das Prinzip des Zufalls. Wobei ich darin nie das zufällige, absichtslose gesehen habe, sonder ganz im Gegenteil in dem Sinn, dass einem etwas zufällt. Gewollt und wie vorherbetimmt braucht man nur zugreifen. Aufmerksam, neugierig und voller Vertrauen auf der Suche, ohne zu wissen was man sucht. Chancen und Möglichkeiten ergeben sich dann wie von selbst. Was wie Chaos erscheint, ist dann (zumindest im Rückblick) folgerichtig wie eine aufgereihte Perlenschnur.
Ich kann mich noch gut an die ersten Fundstücke, die in meine Arbeit eingeflossen sind, erinnern. Anfang der 80er Jahre, noch in meiner Fotografenzeit, als Location für ein privates Modeshooting mit Dorothee : die riesigen Fabrikshallen der stillgelegten SGP- Eisenbahnfabrik in Floridsdorf (längst geschliffen und zum Einkaufszentrum und Gewerbepark Trillerpark mutiert. Anm. der Redaktion). Und eine dieser Fabrikshallen voll mit tausenden buntlackierten Holzmodellen für Gussformen. Vom kleinsten Bolzen bis zu metergroßen Rädern, jeder einzelne Teil aus dem eine Lokomotive besteht, in Originalgröße aber als hölzerne Urform, wohlsortiert in übermannshohe Regale geschlichtet und mit gestanzter Identifikationsnummer versehen. Ein überdimensionales Kinderzimmer für Riesen voller knallbunter Bauklötzchen im verstaubten Dornröschenschlaf. Und ich der Prinz (frisch verliebt mit Prinzessin). Das war mein Musenkuss. Da habe ich angefangen zu spielen. Und neben den eigenen begrenzten Fähigkeiten und Möglichkeiten, war es damals auch eine Frage der Kosten und der Ökonomie ganz allgemein. Und das gabs gratis und es hat dazu geführt, dass ich hauptsächlich Einzelstücke, maximal Kleinstserien produziere.
P.M.: Das führt mich gleich zur nächsten Frage: Kunst oder Design, Designer oder Künstler? Wie ist ihr Selbstverständnis? H.P.: Das ist mir für mich und meine Arbeit vollkommen egal. Da sehe ich keinen Gegensatz und keine klare Trennlinie. Der Unterschied ist für mich ein willkürlicher, entstanden im Industriezeitalter durch Serien- und Massenproduktion, erfunden und gefordert vom Markt und seinen Mechanismen. Bezeichnungen und Namen sind ja letztendlich irrelevant. Ein Sessel wird ja auch nicht dadurch zum Sessel, dass ich ihn Sessel nenne, sondern indem ich mich draufsetz, d.h. durch seine Beziehung zu mir. Darum frage ich mich nicht was ich bin, sondern was ich tu(n will). Immer wieder ist diese Frage an mich herangetreten und da habe
ich dann ganz bewusst eine Nichtentscheidung getroffen. Genau dieser Grenzbereich ist für mich der spannendste. An dieser Schnittstelle ist die größte Bewegungsfreiheit, da ist alles im Fluss, da sind Veränderungen am leichtesten durchführbar. Die Strömung ist am stärksten und es ist vor alle auch nie langweilig.
Es hat mir sicher geholfen keine Ausbildung zu haben, weil wenn man lernt gleich alles „richtig“ zu machen, dann ist das auch sehr eingrenzend. Erstens lernt man aus Fehlern, aber vor allem haben Fehler ein unglaubliches kreatives Potenzial. Deswegen sind Fehler, falsche Verwendungen oder Sichtweisen etc zu einem zentralen Motiv bei mir geworden. Nach dem Prinzip wie kann man etwas falsch machen.
Die bewusste Nichtentscheidung hat(te) natürlich auch gewisse Nachteile. Denn einerseits sagt der Möbelhändler: „...das ist zu teuer, das kann ich, wenn überhaupt, nur einmal verkaufen“ , und andererseits moniert der Galeiebesitzer: „das sind ja Möbel zum Benutzen und keine Kunst“. Da sitz ich dann schon irgendwie zwischen zwei Stühlen (aber durchaus bequem z.B. auf dem Zwischenstuhlsitz).
Aber wie gesagt, das interessiert mich nicht, das kommt von außen und ich kann nur das tun, was für mich wichtig ist, was mich interessiert, und das ist eigentlich immer das, was ich gerade baue/tue oder was als nächstes kommt.
P.M.: Und was kommt als nächstes?
H.P.: Da bin ich auch schon gespannt, aber ich weiß es noch nicht. Ich muss erst dieses Projekt zu Ende bringen, um einen freien Kopf für das folgende zu bekommen.
P.M.: Aber die Ausstellung ist doch schon vorbei?
H.P.: Das ja, doch die Ausstellung an sich war nur ein Teil des geplanten Ganzen. Es ging mir nicht (nur) darum meine Sessel zu zeigen, um eine Art Retrospektive von einem Vierteljahrhundert obskurer Sitz- und Sesselobjekte. Ganz „wesen“tlich geht es mir um die Interaktion zwischen Sitz und „Besitzer“ und um die Dokumentation dieser Interaktion. Vor allem die in den letzten, sagen wir, fünf Jahren entstandenen Stühle lassen sich ja auf unterschiedliche Arten bzw. in mehreren Richtungen besitzen. Das zu zeigen war der ursprüngliche Ansatz der gesamten Aktion: Ausstellung-(Pro)Besitzen-Fotografieren-Katalog. Und dann hat sich während der Ausstellung eine ganz eigene Dynamik entwickelt. Auf der einen Seite war es interessant zu beobachten, wer sich welches Objekt auswählt, um darauf Platz zu nehmen. Wie bei Hund und Herrl gibt es da ganz klare Tendenzen, wer auf was oder wie oder mit wem. Ob alt oder jung, Frau oder Mann, distinguiert oder experimentierfreudig, mutig oder sicherheitsbewusst, Single, Pärchen, Schwule, Heteros,... Aber vor allem war ich überrascht wie kreativ viele Besucher nach neuen Sitzmöglichkeiten suchten, wie viel Zeit sie sich dafür nahmen, oft stundenlang und das sie selbst mir unbekannte Stellungen fanden, in denen sie dann fotografiert werden wollten. Auf der anderen Seite (der Linse) war meine Suche nach dem besten Bild, der interessantesten (Ein)Stellung. War es anfangs ein mehr oder weniger klassisches Porträt, wie ein vorsichtiges Herantasten an den „Gegner“, veränderte sich das von Tag zu Tag zusehends. Immer neue Positionen und Blickwinkel habe ich ausprobiert und manchmal verschmolzen dann Besitzer und Besessene zu vollkommen unerwarteten Körper-Stuhl-Skulpturen. Das ging weit über meinen ursprünglichen Ansatz der Dokumentation und zeigte mir eine neue Sicht der Dinge. Darum bin ich nie sicher was als nächstes kommt, sondern versuche aufzupassen, dass ich nichts verpasse.
P.M.: Sie bauen nicht nur physisch an ihren Fund- und Versatzstücken. Die Titel ihrer Werke lassen auf einen ähnlichen Umgang mit Sprache, Wörtern und Begriffen schließen.
H.P.: Genau. Ich versuche meine Stilmittel und Verfahrensweisen (Zerteilung, Reduktion, Kombination, assoziative Verdichtung, usw.) sowohl im Dinglichen als auch im Sprachlichen anzuwenden. Nehmen sie z.B. die Chair?-Gruppe. Auf der physischen Ebene nehme ich die Teile eines Sessels und kombiniere sie frei miteienander. Auf der Metaebene der Sprache ist der Titel dann ein Anagramm. Aus Chair wird Archi, aus Stühle wird Lühste und wenn diese dann quasi Liebe machen schließt sich der Kreis, die Sache wird rund und macht irgendwie Sinn.
P.M.: Und was ist zuerst da, Werk oder Titel?
H.P.: Das ist ein bisschen wie bei Huhn oder Ei. Meist ist zwar zuerst das Objekt da, zu dem ich dann den richtigen Titel suche, aber nicht immer. So suche ich z.B. seit Jahren den passenden Sessel für einen dirigierenden Sessel namens Chairkowski. Im Gegensatz dazu der Klovierhocker. Die Teile fanden wie von selbst zusammen (Abteilung Versatzstücke aus Holz), wurden aber wegen fehlenden Titels erst Jahre später zusammengeschraubt (ich wusste, dass es den richtigen geben muss) aber es dauerte weitere Jahre, bis er mir schließlich eingefallen ist.
P.M.: Und was ist wichtiger?
H.P.: Schwer zu sagen, nur wenn beides passt und eine sinnvolle Symbiose eingeht bin ich zufrieden. Es geht um die Verbindung, um die Beziehung. Wobei es schon Objekte gibt, die sich mehr aus ihrer (Um- oder auch Un)Funktion erklären und rechtfertigen, der Titel mehr sinnvolles(?) Beiwerk ist und solche, die ohne den Namen keine Notwendigkeit erreichen. Denn bei aller Freiheit darf diese nie zur Beliebigkeit ausarten, sondern alles folgt stets strengen, selbstauferlegten Kriterien und Gesetzmäßigkeiten.
P.M.: Und wie lauten diese?
H.P.: Find, cut, turn & join. Und es geht um Einfachheit, Klarheit, Purismus. So einfach und wenig wie möglich, soviel wie notwendig. Effizienz ist gefragt, schließlich tu ich viel und bin trotzdem faul. Und es geht um Andersartigkeit, Innovation, Idee und Irritation, um prinzipielle Notwendigkeiten/Möglichkeiten, ein bisschen wie mathematisch logische Formalismen.
Wenn man sich die Entwicklung des Sessels als Baum vorstellt mit Stamm, Ästen, Zweigen und Blättern, ein Baum der stetig nach außen wächst und sich entwickelt, dann interessiert es mich nicht in vielleicht sonniger Lage irgendein kleines frisches Blatt fast unterschiedslos zum Nachbarblatt hervorzubringen. Da bilde ich lieber im tiefen Schatten einen kleinen knorrigen Seitentrieb, tief unten am Stamm, ohne Konkurrenz und gut geerdet.
Die einfachen Dinge/Ideen sind für mich die besten. Aber je simpler etwas ist (oder erscheint) desto schwieriger ist es zu (er)finden, weil es einfach meistens schon da ist, ein/e andere/r hatte bereits die Idee. Und trotzdem versuche ich lieber das Rad (neu) zu erfinden (auch wenn es dreieckig ist und ein bisschen holpert) als ein zusätzliches Feature am neuesten U-phone, auch wenn dies auf den ersten Blick vielleicht komplexer und schwieriger erscheint.
P.M.: Gibt es so etwas wie eine zentrale Message in ihrem Werk, eine Art größten gemeinsamen Teiler?
H.P.: Das ist für mich der Turn, der Wendepunkt, wenn ein Ding, eine Bedeutung, eine Funktion oder eine Geschichte in eine andere umschlägt. Wie die Pointe in einem Witz, der Moment in dem die eine Realität in eine andere umkippt, diesen Moment versuche ich
festzuhalten. Dieses Oszillieren von weder noch und sowohl als auch, diesen Schwebezustand zwischen zwei Zuständen oder zwei Welten.
P.M.: Viele ihrer Sitzobjekte haben ja auch in mannigfaltiger Form ein Bewegungselement, verstellbare Lehnen, Rollen, Schaukelkufen oder man kippt gleich den ganzen Stuhl. Ist das System oder Zufall?
H.P.: Sowohl als auch. Das ist Teil des Turns. Für mich ist Sitzen nichts statisches, sondern war immer etwas dynamisches. Schon als Kind fiel es mir schwer ruhig zu sitzen, ständig wurde ich in der Schule ermahnt nicht zu hutschen und selbst heute wetz ich hin & her, leg meine Beine hoch, setz mich quer oder rittlings hin. Da hat sich diese Bewegung auf meine Arbeiten übertragen, das hat sich so ergeben und wird einfach weiterverfolgt. Mal sehen wo es mich hinführt. Turn (on) & keep on running.
P.M.: Herr Palla. Vielen Dank für das Gespräch.